SHOSHIN 初心
Den Anfängergeist bewahren
Eine Herausforderung in der Kampfkunst besteht darin, sich den „Geist des Anfängers“ zu bewahren. Dabei geht es um die unvoreingenommene Offenheit und Neugier auf „Neues“. Eine aufgeschlossene und lernbereite Einstellung, ohne vorgefasste Meinungen und Urteile. Dies bedeutet, man sollte sämtlichen Inhalt über sein Wissen des eigenen Karate zur Seite legen, und sich ganz der jetzigen Übung widmen. So ist der Geist stets offen für neue Erfahrungen und Erkenntnisse. Für einen fortgeschrittenen Schüler bedeutet das, jeder Situation so zu begegnen, als wäre es das erste Mal. Da man im Laufe der Zeit eigene Barrieren aufbaut, die sich durch Vorurteile, Meinungsbildung und Schlussfolgerungen eingeprägt haben, verhindert man das Lernen und den Fortschritt.
Loslassen, was man zu wissen glaubt
Ein Professor besucht den Meister. Da spricht und spricht der Professor über alles, was er über Karate weiß, will diskutieren. Der Meister steht auf und holt eine Kanne Tee. Er gießt Tee in die Tasse seines Besuchers, mehr und mehr, der Tee läuft links und rechts die Tasse herunter, füllt die Untertasse, überschwemmt auch diese. Da kann der Professor nicht weiter an sich halten.
„Was tust Du da, es ist längst mehr als voll, da passt doch nichts mehr rein!“
„Wie diese Tasse“, sagt der Meister, „bist Du überfüllt von Deinen Meinungen und Spekulationen. Wie soll ich Dir Karate zeigen, wenn Du nicht zuerst Deine Tasse leer machst?“
„shoshin“ ist eine Geisteshaltung und bedeutet auch, jedes mal wieder von Neuem hinzusehen, als wüsste man (noch) von nichts. Nur ein einfacher oder Anfängergeist kann das gezeigte anders wahrnehmen, das Bewußtsein ist dem Wesen nach „einfach“, das heißt, aus einem Teil. Dieses „reine Bewußtsein“ zu entwickeln und zu entdecken, geschieht nach und nach, und funktioniert nicht auf Anhieb. Lernen wir zum Großteil in diesem reinen Anfängergeist, sind wir nicht mehr der Sklave von Techniken, Ereignissen und Gedanken, die uns stressen und gnadenlos im Griff haben.
„Der Geist des Anfängers hat viele Möglichkeiten,
der des Experten nur wenige.“Suzuki Shunryū 鈴木俊隆 (1904–1971)